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Der Fall Snapchat: Wie schlechtes UI-Design erfolgreich macht

Snapchat und TikTok sind ein UX Desaster. Wie wurden die beiden Social Media Apps trotzdem zu den Lieblingsnetzwerken der Generation Z?

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“Deine Mutter hat Snapchat?!” frage ich ungläubig als mir meine Kollegin stolz deren Profil präsentiert. Sogar ein Bitmoji, einen kleinen Cartoon Charakter mit eigenem Aussehen, hat sie erstellt. Ich bin beeindruckt. Denn Snapchatter über 35 gibt es quasi nicht, obwohl die App seit 5 Jahren zum Mainstream gehört. Auch auf TikTok, der aktuellen Social Media App der Stunde, sieht es nicht anders aus. Dabei sind die meisten anderen Sozialen Medien schon lange bei älteren Zielgruppen verbreitet. Wie kommt das?

Schaut man sich Snapchat und TikTok genauer an, wird eines schnell klar: Wirklich benutzerfreundlich sind sie nicht. Besonders im Vergleich zum Platzhirsch Facebook fällt auf, wie kompliziert die Benutzeroberflächen eigentlich sind.

“Als wäre Snapchat von Willy Wonka entworfen, reizt die App mit einem Wirrwarr an Features die Grenze des Verstehbaren aus.”

– Carmel DeAmicis

Während fast jede erfolgreiche App auf längst etablierte User Interface Praktiken zurückgreift, stellen Snapchat und TikTok diese eher auf den Kopf. Nutzer bekommen inkonsistentes oder gar kein Feedback, manche Funktionen können nur per Zufall entdeckt werden. Auf eine herkömmliche Navigationsleiste wird bei Snapchat komplett verzichtet und Sub-Seiten der App verstecken sich hinter Wischgesten, welche teilweise auch mehrfach belegt und vom Kontext abhängig sind.

Bitmojis – Cartoon Charaktere, die Snapchatter erstellen können

Für Snapchat wird schlechtes UI zum Gatekeeper

Erstaunlicherweise ist diese Designpraxis aber ein Schlüssel zum anfänglichen Erfolg von Snapchat. Denn das verwirrende UI und die damit einhergehende Nutzerfahrung wirken als digitaler Hindernisparcours für ältere Zielgruppen. Trotz immensem Erfolg bei jüngeren Leuten bleibt die App der Generation 30+ verschlossen – unter Anderem wegen seiner nutzerfeindlichen Bedienung. Auf diese Weise wird Snapchat ein digitaler Raum auf dem sich junge Leute der “Welt der Erwachsenen” entziehen können.

Snapchat verziert manche Chats mit Freundschaftsemojis (hier rechts)

Und so bleibt das Netzwerk exklusiv für jüngere Leute, durch einen Eisberg unsichtbarer oder nicht erklärter Features. Über die Funktionsweise einiger dieser Features können selbst langjährige Nutzer nur spekulieren. Wer zum Beispiel wissen will was die sogenannten Freundschaftsemojis bedeuten, konnte sich lange Zeit nur auf Netzspekulation verlassen. Denn was diese kleinen Bildchen neben den Profilnamen mancher Freunde aussagen, verriet die App einem schlichtweg nicht. Auch heute noch sind die Erklärungen mehrere Seiten tief in den Einstellungen versteckt.

Snapchat hat diese Verwirrung zwar mittlerweile etwas eingedämmt, aber vor Allem in den ersten Jahren war sie ein fester Bestandteil des Designs. Lange Zeit verfügte die App etwa über ein eigenes Achievement System mit geheimen Emoji-Abzeichen. Auch diese stifteten Spekulationen an, denn was man für welches Abzeichen tun musste war bis zum Schluss ein Geheimnis. Wer nicht gezielt im Netzt danach suchte, konnte sie eigentlich nur per Zufall verdienen. Verschickte man etwa zwischen 4:00 und 5:00 morgens ein Bild, wurde man mit einem Spiegelei-Emoji in seinem Profil belohnt, für das tausendste Selfie gab es eine Teufelsmaske.

Teilbares Design als Schlüssel zum Erfolg

Was völlig banal klingt, hat einen interessanten Effekt: Neue Nutzer müssen von Snapchat-Veteranen (dafür gibt es übrigens auch ein Abzeichen im Profil) in die Funktionen der App eingeweiht werden. Dieser Prozess vermittelt das Gefühl von Exklusivität.

Auch TikTok reitet auf einer ähnlichen Welle, denn die App richtig zu bedienen gleicht einer Wissenschaft. Anstatt mit altbekanntem App-Design eine “richtige” Art der Bedienung zu suggerieren, werden Nutzer durch den undurchsichtigen Aufbau der App dazu ermutigt, die Grenzen des Kreativ-Tools auszureizen. So wird TikToks UI-Dschungel für junge Leute nicht zwangsläufig zum Hindernis, sondern zu einem digitalen Spielplatz, auf dem sich Nutzer kreativ austoben können.

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So könnte der Filter “9-Screen Selfie” verwendet werden

Auf den ersten Blick erscheint der TikToks Video Editor wie ein halbfertiger Prototyp. Doch findet sich ein User im Wirrwarr der ständig wechselnden Effekt- und Filteroptionen zurecht, eröffnen sich ihm erstaunlich viele Möglichkeiten. Die meisten Trends auf TikTok entspringen aus der kreativen Nutzung und Kombination der verfügbaren Effekte. Wer also ein neues Feature entdeckt oder dessen Potential ausreizt, hat die Chance einen viralen Trend zu erschaffen.

In der Welt von TikTok heben sich auf diesem Weg Trendsetter vom Rest der Nutzer ab. Dabei reicht manchmal ein virales Video um sich als TikTok-Influencer zu etablieren. Auch diese Version der digitalen Cliquenbildung beeinflusst den Erfolg der App. Denn das latente Chaos der TikTok Benutzeroberfläche fordert den Einfallsreichtum der Nutzer, anstatt definierte Use Cases vorzugeben.

Was kann man daraus lernen?

Es erscheint widersprüchlich, doch die Beispiele TikTok und Snapchat zeigen, wie sich die ungewöhnlichsten Ideen zu den größten Erfolgen entwickeln können. Wer hätte vor 5 Jahren prophezeit, dass Spielegeilei-Emojis und undurchsichtiges App-Design zum Durchbruch verhelfen können? Oder dass angestiftetes UI-Chaos nicht abschreckt, sondern vielleicht sogar anzieht?

Ob sich Snapchat und TikTok bewusst entschieden haben mit ihrem verwirrenden UI nur Digital Natives anzusprechen, bleibt natürlich offen. Wahrscheinlicher ist es, dass der Gatekeeping Effekt den Netzwerken zufällig in die Karten spielte. Manchmal liegt der Schlüssel zum Erfolg eben in den komischsten Ideen. Und was erfolgreiche von den weniger erfolgreichen abhebt, liegt letztendlich ganz allein in den Händen der Nutzer.

Übrigens: Meine Verwunderung über die Snapchat-freudige Mutter meiner Kollegin hielt nicht allzu lange an — wie mir später verraten wurde, hatte sie sich das Profil gar nicht selbst erstellt, sondern Hilfe von ihrer Tochter bekommen. Alles andere hätte mich auch ernsthaft verwundert.

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